OnTour Ungarn 2016

19. – 30. Mai 2016

Lehm, Sör und Palinka

Studienreise zur Lehmkultur anderer Länder

An 11 Tagen unterwegs sein und das Land, ihre Siedlungen, ihre Bautraditionen und Kultur kennenlernen

  • Traditionelle Lehmbauten in Ungarn
  • Experimentelle Lehmsiedlungen
  • Lehmsteinpresse

Reisebericht

 

Die IG Lehm organisiert alle 2 Jahre eine Studienreise für unsere Mitglieder. Wir konzentrieren uns auf das Thema des traditionellen und aktuellen Bauens mit Lehm. Andere kulturelle und gesellschaftliche Attraktionen runden unser Programm jeweils ab.
Vom 19.-30.Mai 2016 machte sich eine 13-köpfige Reisegruppe auf nach Ungarn.

 

13 Lehmnasen trafen sich in Thomas Guntlis ungarischem Paradies oberhalb des Dorfes Nemessandorhaza. Thomas, ein ausgewanderter Bündner und seine polnische Freundin Anna hatten aufgetischt: Torte und belegte Brötchen waren zum Zulangen, starker türkischer Kaffee zum Einschenken parat. Die mit Autos Angereisten hatten eine rumpelnde Nacht im Autozug von Feldkirch nach Graz hinter sich und waren entsprechend gerädert. Die beiden auf dem Töff fuhren zwar die ganze Strecke von Zürich nach Ungarn, hatten jedoch in guten Hotelbetten geschlafen.

Nachmittags gings auf Spaziertour hügelaufwärts entlang zahlreicher Akazienbäume. «Sie eignen  sich hervorragend als Brenn- und Pfahlholz – aber nicht für Möbel, keine gerade Latte lässt sich daraus schneiden», merkte Guntli an. Wir besichtigten drei Lehmhäuser, deren Erbauer und -bauerinnen sich alle als Laien bezeichnen. Mit viel Einsatz und noch mehr Motivation streben sie ein anderes Leben an, zu dessen Schlüssel das selbst gebaute Lehmhaus geworden ist. Ihr fernes Ziel: möglichst autark leben und die sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften hinter sich lassen - zumindest die unnötig erscheinenden. Die Zugewanderten kommen aus dem deutschsprachigen Raum und finden in diesem Landstrich ideale Bedingungen – obwohl ihrem Ansinnen seitens der Behörden oft etwas störrisch begegnet wird - „man bekommt manchen Chnebel zwischen die Beine», so Thomas.
Vor ihrem 8-Eck-Lehmhaus trafen wir Mike und Lina: Nach Guntlis Rezept hatten sie eine Lehmsuppe angerührt, stellten rund 4000 Lehmsteine her, verbauten davon gut 3000 und verkauften 800. Ein Stein wiegt zwischen 5 und 10 Kilo. Das Raumgewicht des Mauerwerks liegt wohl bei ca.800kg/m3. Die Rundholzkonstruktion erhielt als Aussenwand ein Lehmstein-Mauerwerk von ca.30cm Stärke. Aussen und innen mit Lehm verputzt trotz der sommerlichen Hitze und auch der Kälte der ungarischen Winter. Der Lehm stammte direkt von der Bausstelle; er sei sehr fett und deshalb wurde ebenfalls eigener Sand beigemischt. Laut Mike verbrauchen sie im Winter rund 3 m3 Holz.

Pince, die ungarische Datscha
Wir kamen am stattliche Stampflehm-Haus eines Einheimischen vorbei. Thomas wies darauf hin, dass unter den Kommunisten jedem ein Streifen Land mit einem Häuschen drauf gratis zugewiesen wurde: in der Pince, vergleichbar der russischen Datscha, wurden und werden Feierabende, Wochenenden und Ferien verbracht, man zieht eigenes Gemüse und Beeren und erreicht damit eine gewisse Selbstversorgung. Dieses Haus jedoch stammt aus vorkommunistischer Zeit, also hat auch die ungarische Pince eine lange Tradition. Diese  Pincen, eigentlich Keller, aber heute für „Weinkeller“ gebräuchlich, sind ebenfalls aus Lehm gebaut – einige werden noch genutzt, andere sind am Verfallen, weitere bereits überwucherte Ruinen.
Das nächste Haus, das Nonagon mit 9-eckigem Grundriss, besteht aus einem massiven Lehm-Holzmauerwerk, die Wände sind 40cm dick und die eingebrachten Scheiben aus Robinienholz wurden mit  Leinöl behandelt. Nach Eduards Aussage ist der Lehm-Holzbau sehr gut isoliert. Seine sogenannte reziproke Dachbalken-Konstruktion ist dokumentiert unter www.landsitzer.wordpress.com

Ein Abstecher ins Freilichtmuseum Zalaegerzeg, das sich quasi als ungarisches Mini- Ballenberg entpuppt. Sicher ein Dutzend Lehmhäuser sind dort versammelt und vermitteln einen schmalen Einblick in traditionelles, aber einseitiges, ungarisches Lehmschaffen;  Ralph hielt fest, „ dass auf der Anlage weder Massiv-Lehmbauten noch Nasslehm-, Weller- oder Flechtwerk-Konstruktionen vertreten sind“. Dem «Klein-Ballenberg» angeschlossen ist ein Industriepark mit stählernen Zeitzeugen wie mobile Bohrtürme aus den letzten 100 Jahren.
Dem Balatonsee entlang reihen sich Pensionen an Hotels, Biker- und Bootstouren und was der Events mehr sind, buhlen um Touris, Wellness bis zum Geht nicht mehr. Wir wagten einen kurzen Schwumm im Thermalsee des Kurorts Bad Héviz. Die Wassertemperatur mässig, dafür viel dickes Volk – neben ungarisch, deutsch und englisch sind die Infotafeln auch russisch beschriftet. Nichts hielt uns hier lange.

In Esztergom übernachteten wir in der hübschen Pension Alabardos. Spätabends nahmen wir den Schlummi vor einer Beiz mit ein paar Tischchen auf dem Trottoir, ansonsten herrschte Tote Hose. Leben in die Bude brachten zwei junge, beschwipste Ostschweizer, die einen der ihren hier in den Polterabend geführt („gelitten hat er...“) und hoffentlich in eine bessere Zukunft geleitet haben. Gegensätzlicher hätte es nicht sein können: Hie unten das Fussvolk mit seinen kleinen Vergnügen, oben auf dem Hügel die Basilika von Esztergom, die zeigt, wer das Sagen hat im Staat – betont durch ein schwülstiges steinernes Denkmal: der Kirchenvater krönt den vor ihm knieenden weltlichen Herrscher. Der klotzige Kirchenbau ist zwar imposant mit seiner Gesamthöhe von 100 Metern, etwas brachial, der Ort hingegen, hoch über dem Donauknie, ist von bezaubernder Schönheit, deren Bann man sich kaum entziehen kann - wer die Macht hat, hat sich schon immer das Edelste angeeignet…

Ausverkauf der Magyaren
In Ungarn - ungarisch Magyarország - war der Frühling noch nie so grün und früh blühend wie dieser, sagen die Einheimischen. Die Pfingstrosen verblühten noch vor Pfingsten, die weiss blühenden Akazienbäume überzuckerten ganze Wälder, das Gras mit rosafarbenem Klee, violettem Wiesensalbei, weissen Margeriten und gelbem Löwenzahn stand halbmeterhoch – ein saftiges, ein schönes, ein fruchtbares Land. Doch halb Ungarn scheint sich verkaufen zu wollen. Auf Schritt und Tritt, besser Rad auf Rad liest man Schilder mit Elado - zu verkaufen: in den Dörfern, vor Gewerbegebäuden oder halb erstellten Mauern, auf Brachen und Feldern, selbst auf Balkonen in der Hauptstadt.

In Budapest stiegen wir im Gellert, einem der besten Hotels ab. Der alte Jugenstil-Komplex mit 5 (!) wirklich warmen Thermalbädern, versprüht einen seltsamen Charme aus früherer Zeit – ein Genuss. Wie auch das ausgezeichnete Restaurant, in dem ein Aegypter erlesene, auf den punkt gegarte Steaks servierte – dazu reichlich Sör (Bier), Bor (Wein) und Pàlinka (Obstbrand). Neben einem Stadtrundgang mit Flora Szkordiliz verschwanden wir auch im Bauch von Budapest – im eindrücklichen, unterirdischen,
zweigeschossigen Schacht- und Stollensystem der Bierbrauerei Dreher. Auf der Gesamtlänge von rund 30 Kilometern wurde hier unten das Bier bei konstanten 12 Grad gelagert. Heute allerdings nicht mehr. Eine neue Nutzung der Stollenanlage wird gesucht: Der deutsche Architekt Martin Pilsitz, seit langem in Budapest ansässig, hatte den spannenden Unter-Tag-Trip ermöglicht. Er kämpft für die Erhaltung alter Industrieanlagen.

21 000 Lehmsteine vermauert
Die flache, grüne Puszta breitete sich weit aus, weisse Wolken schwebten unter dem weiten, hohen, blauen Himmel - Wattebäuschen gleich. Die Wettergötter meinten es gut: fast immer strahlend schön mit guten 30 Grad. In Békéscaba gingen wir bei Laszlò Szlynka vorbei. Er hat über die vergangenen 20 Jahre bereits 3 Typen von hydraulischen Lehmsteinpressen entwickelt. Das jüngste Modell, die Föltegla 3 basiert auf dem Prinzip eines horizontal rotierendem 3-Kammer-Systems: 1.Kammer befüllen, 2.Kammer verdichten, 3.Kammer fertigen Stein ausstossen. Das Steinformat: 12/15/30cm. Youtube-Film ansehen via website: www.földteglabt.hu.
Lazlo begleitete uns auch zu Sandor und Julia Györfi, die eigenhändig ein neues Haus bauen aus dunklen Lehmsteinen, 27 Meter lang, 21 000 Steine vermauert. Chapeau!
Später, in Mohacs treffen wir Gergely Szlyuka, der uns durch ein Dorf mit Schwabenhäusern führte, allesamt aus Lehm erstellt. Die im Habsburgerreich in Südosteuropa angesiedelten Wehrbauern unterschiedlichster Sprache, Religion und Tradition waren zwar hauptsächlich Lothringer, Pfälzer und Elsässer. Aus Schwaben kamen lediglich 6 Prozent der Zugewanderten. Nach der Volkszählung von 1920 lebten über 551 000 Deutsche in Ungarn.
Der Bürgermeister von Erzsébet öffnete für uns sein Zementplatten-Museum: Alte Kacheln werden restauriert und teuer nach Holland verkauft, aber auch neue mit den traditionellen Mustern produziert. Krönender Abschluss eines gelungenen Tages: Fischsuppe bei Janos, Gergelys Vater.
Auf der Heimreise noch ein kurzer Trip nach Gyürüfü, einer Lehmbausiedlung, abgelegen im Niemandsland. Bestens verpflegt von den gastfreundlichen Menschen, trennten sich hier die Wege der Auto- und Töffreisenden. Auf die einen wartete der Autozug in Graz, auf die andern eine pflotschnasse Heimfahrt.


11. August 2016, Regine Elsener

 

PS: Doris und Ralph gebührt ein ganz grosses Dankeschön – vor allem Doris, die umsichtig und diskret für einen optimalen Verlauf dieser Lehmreise sorgte!

Veranstalter

IG Lehm Fachverband Schweiz
 
Reiseleitung:
Doris Müller
Ralph Künzler

Ort

Ungarn